Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Künste verkommen zur Dekoration

Ein Gespräch mit dem Dirigenten und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg

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Welchen Stellenwert haben derzeit die Künste, insbesondere die Musik, in den entwickelten Industriegesellschaften?
Leider verkommen die Künste, namentlich die bildenden, insbesondere aber die Musik mehr und mehr zu einem teuren, jederzeit abrufbaren Konsumgut. Noch schlimmer: Sie verkommen zur Dekoration! Die der „großen“ Kunst jahrhundertübergreifend innewohnenden Botschaften und Visionen werden vom internationalen Musikbetrieb und vom „Markt“ weitgehend ausgehöhlt und zerfressen.

Welche Rolle sollte den Künsten nach Ihrer Auffassung zukommen?
Die jeweiligen Schöpfer der großen Kunstwerke waren immer auch - bewusst oder unbewusst - als Schüler des Vergangenen Interpreten ihrer Zeit, trugen deren/ihre Philosophien in die nächsten Generationen und waren dort wieder die Wurzel neuer Visionen. Niemand formulierte diesen Weg präziser als Arno Schmidt:  „Kultur ist ein verschränkter Ahnen- und Enkeldienst: Vermittlung des Vergangenen, um die eigene Gegenwart zu verstehen und die Zukunft aus dieser Einsicht heraus bewältigen zu können.“

Mit diesem tiefen Wissen haben die Generationen nach den beiden Weltkriegen meiner Wahrnehmung nach weitgehend gebrochen. Der menschliche Geist und seine Schöpferkraft fanden ihren neuen Biotop in der Technik, nur ohne das Sicherheitsnetz der Generationen-Weisheit, wie sie Arno Schmidt beschrieben hat. 

Glauben Sie, dass sich bei einer größeren Zuwendung zu den Künsten existentielle Menschheitsfragen wie die Überforderung der Erde aber auch der Menschen selbst leichter lösen ließen?
Es fällt mir schwer, diese Frage wirklich ehrlich zu beantworten, denn ein Blick auf unsere abendländische Kulturgeschichte, aber auch auf das Weltgeschehen lässt wenig Raum für Optimismus. Die Religionen - ich meine explizit nicht die Kirchen - und die Philosophien beschäftigen sich mit nichts anderem, als (Er)-Lösungen für die immer wieder ins Chaos führenden Menschheitswege zu finden. Es ist nie auch nur im Ansatz gelungen. Daher werden die (Er-)Lösungen auch meist in ein Jenseits des Lebens verlegt.

Nie vergessen werde ich das Statement eines überzeugten Kommunisten, der mir in diesem Zusammenhang sagte: „Würden die Christen konsequent nach der Bergpredigt leben, es hätte keines Marx und Engels bedurft.“ Die Künste und besonders die Musik sind die ästhetischen Überhöhungen des beschriebenen Bemühens. Sie vermögen durch Schönheit und das Weisen in eine transzendentale Welt zu trösten, sie können auch warnen und drohen, sie können aber genauso wenig wie die Theologie, die Geisteswissenschaften und die Philosophie die existentiellen Menschheitsfragen und die Überforderung der Erde lösen.  

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Wie sehen Sie das Verhältnis von Natur, Technik und Kunst? Ergänzen sie einander oder sind es unterschiedliche Welten?
Kunst und Technik waren über Jahrhunderte einander sehr zugewandte, einander bedingende aus der Natur geborene Schwestern, siehe z.B. Leonardo da Vinci. Beide haben sich aber in den letzten 150 Jahren mehr und mehr auseinandergelebt und taumeln auf getrennten Wegen in eine bedrohliche Zukunft. Den Zauberlehrlingen des 20. und 21. Jahrhunderts ist das Sicherheitsnetz des „Ahnen- und Enkeldienstes“ nach Arno Schmidt weitestgehend zerrissen - und die Kontrolle über ihr Spiel mit den Bausteinen der Schöpfung fatal entglitten. Hier finden die biblischen Bilder der Sintflut und des Turmbaus zu Babel im Klimawandel und in den Ruinen von Tschernobyl und Fukushima ihre nüchterne Entsprechung. Wie gesagt haben sich auch der schöpferische Geist und seine kreative Kraft immer mehr von der Kunst ab- und der Technik und den Wissenschaften zugewandt. Noch Albert Einstein wird zugeschrieben: „Das Finden der Relativitätstheorie ist der kleinere geistige Aufwand gewesen als das Erfinden der Kunst der Fuge.“

Im 20./21. Jahrhundert aber bemisst sich das menschliche Genie endgültig am Faszinosum der modernen Technik wie z. B. der schrittweisen Eroberung des Weltalls, an einer Quantenfeldtheorie, an den Errungenschaften der Atomphysik, an den Wunderwerken der Gen- und Computertechnik usw. und nicht mehr an das Jahrhundert prägenden und bewegenden Kunstwerken. Die jüngste Musikgeschichte zeigt diese Entwicklung: Mit Anbruch der technischen Neuzeit erobern erneut die großen alten Komponisten die Konzertsäle und Opernhäuser der Welt. Ein bisher nie da gewesenes kulturelles Phänomen. Und die Inszenierungen und Interpretationsansätze beschäftigen heute die Zuhörer fast mehr als die Werke selber. 

Zeitgenössische Kompositionen, von der Popmusik abgesehen, werden in der Regel nur noch wohl verpackt mit beliebten Werken der Großen aus der Vergangenheit dem Publikum dargeboten, um überhaupt von den Menschen wahrgenommen zu werden. Hätte sich die neue Musik, überhaupt die Kunst, so wie die Technik auch, nicht aus dem „Ahnen- und Enkeldienst“ verabschiedet, hätte sie sicher weiter die Qualität, von den Zeitgenossen besser verstanden und angenommen zu werden.

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Was verlören die Menschen, wenn sie sich noch stärker auf die Mehrung materiellen Wohlstands fokussierten und die Künste hintanstellten? 
Sie verlören das Bewusstsein ihrer selbst als geistige, reflektierte Wesen. Und sie verlören damit den ihnen im alten Testament verliehenen Ehrentitel der Ebenbildlichkeit Gottes, die wenn überhaupt nur über die Schöpferkraft des Menschen zu verstehen ist. Oder einfacher ausgedrückt: Damit würden sich die Menschen in eine Säugerart zurückdefinieren, die ihren geistigen wie biologischen Lebensraum solange auffrisst, bis sie an sich selbst zugrunde geht. Wir sind auf bestem Wege. Haben wir uns nicht heute schon offiziell und ohne Widerspruch selbst zu „Verbrauchern“ degradiert und unterhalten wir zum Schutze unseres Verbrauchs nicht sogar ganze Ministerien?!

Sollte sich ein Künstler über seine Kunst hinaus gesellschaftlich oder politisch engagieren?
Unbedingt! Das haben die Künstler immer getan. Man denke nur an die Einmischungen in die Tagespolitik etwa bei Dante, bei Monteverdi, bei Goethe, Beethoven oder Wagner. Überhaupt: Was heißt denn Politik oder res publica übersetzt? Nichts mehr als die öffentlichen Dinge, also die, die alle angehen und letztlich, zumindest in den Demokratien, auch in der Verantwortung des Einzelnen liegen. Es ist gar keine Frage, ob die Kunst sich gesellschaftlich oder politisch engagieren soll, sondern höchstens, wie sie es zu tun hat. Sich einzubringen gehört zu ihrem Wesen.

Wie stehen Sie zu den unterschiedlichen Umweltbewegungen? Gibt es Ansätze, die nach Ihrer Meinung besonders unterstützungswürdig oder Erfolg versprechend sind?
Es ist noch nicht lange her, da sprachen die Natur- und Umweltbewegungen weltweit die gleiche Sprache. Das hat sich leider, insbesondere in Deutschland, dramatisch verändert. Die meisten Umweltverbände, allen voran die Führung des BUND, sind dem gleichen Machbarkeitswahn und blinden Fortschrittsglauben verfallen, gegen den zu kämpfen sie angetreten waren. Die so genannte Energiewende und das damit einhergehende Erneuerbare Energien Gesetz/EEG zerstören mit ihren monströsen Gerätschaften meist ohne Widerstand der BUND-Führung einstmals streng geschützte Naturlandschaften, Arten und Kultur unseres Landes in nie vorher erlebtem Maß. Was im Zweiten Weltkrieg an städtebaulicher Substanz und Kulturdenkmälern zerstört wurde, wird jetzt an unseren letzten Kulturlandschaften, an letzten noch intakten Natur- und Ökosystemen und an strengst geschützten, vom Aussterben bedrohten Arten skrupellos wiederholt. In den allermeisten Fällen mit einem Imprimatur des BUND.

In Bayern wurde ein neuer Verband für Arten- und Landschaftsschutz VLAB gegründet, dessen Ziele sich ausschließlich am klassischen Natur-, Landschafts- und Umweltschutz orientieren, der u.a. das Auffangbecken unzähliger entsetzter und enttäuschter BUND-Mitglieder ist. Der VLAB hat als Verband die Anerkennung der bayerischen Umweltbehörde erlangt und besitzt auch das wichtige Verbandsklagerecht, das in absehbarer Zeit auf die gesamte Bundesrepublik ausgeweitet werden wird. International ist nach wie vor Greenpeace der schlagkräftigste, politisch einflussreichste und wohl auch unabhängigste Verband. 

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Was assoziieren Sie mit Natur, was mit Kultur?
Jede Kultur erwächst aus der Natur. Anders wäre Kultur nicht denkbar. Die berührendsten Symbiosen aus Natur und Kultur sind die Kulturlandschaften, die ihren Bewohnern Identität, Heimat und Sprache verliehen haben; in denen selbst die alten Dorf- und Stadtbilder ohne jeden Zweifel aus der Inspiration der sie umgebenden Natur entstanden sind. An der geradezu manischen Zerstörung unserer letzten intakten Kulturlandschaften kann man erkennen, dass wir Deutsche nicht nur von allen guten ökonomischen und ökologischen Geistern verlassen sind, sondern dass das selbst ernannte „Volk der Dichter und Denker“ in der Gefahr ist, mehr und mehr zu einem kulturlosen Proletariat zu verkommen.

Was bedeuten eine intakte Umwelt und Natur für das Wohlbefinden?
Alles! Wir würden bzw. werden auf Dauer ohne - nüchtern ausgedrückt - unseren Biotop nicht überleben können. Warum fühlen sich alle Menschen in unberührter Natur so wohl, warum entstanden mit zunehmender Industrialisierung Europas die Umweltbewegungen? Warum zieht es alle Menschen, die einmal das unberührte Afrika erlebt haben, immer wieder dorthin, warum sind sie süchtig - trotz vielerlei Gefahren - nach der erlebten Wildnis? Weil der Mensch im Unterbewusstsein erkennt, wo seine Wiege stand und wo die Quellen seiner Gaben fließen. Dies alles selbst zu zerstören hat sowohl die Qualität eines Mutter- wie auch eines Kindermords. Zumal die Generationen nach uns alles ausbaden müssen.    

Was bedeutet für Sie „Bewusstsein“ und wie wichtig ist es, „Bewusstsein“ dafür zu haben, was man tut?
Für mich bildet sich Bewusstsein aus Erfahrung und Erkenntnis. Erkenntnis und Erfahrung wiederum generieren Verantwortungsbewusstsein. Alles, was man tut, müsste über das Verantwortungsbewusstsein einer Prüfung unterzogen werden, ob es vor der eigenen Erkenntnis und Erfahrung, aber auch vor der kollektiven Erfahrung und Erkenntnis bestehen kann. 

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Was bedeutet für Sie "immaterieller Wohlstand" und wie sollte er gefördert werden?
Das „Omnia mea mecum porto“ (Cicero nach Bias), „Ich trage alles, was mir gehört, bei mir“ genauso wie das Leben des Diogenes stehen seit den alten Griechen für immateriellen Wohlstand. Hohes Allgemeinwissen, umfassende kulturelle Bildung in Literatur, Musik und bildenden Künsten und soweit möglich auch ein geistiger Kompass für die abendländischen Philosophien wären ein Idealfall an immateriellem Wohlstand. Eine Förderung des immateriellen Wohlstands kann neben den Elternhäusern nur von den Schulen und damit im Wesentlichen vom Staat erbracht werden. Angst vor Elitebildung, wirtschaftliche und praktische Überlegungen bewirken aber gegenwärtig im deutschen Schulsystem gerade das Gegenteil.

Es gibt ein altes Sprichwort: „Rette Dich selbst, dann rettest Du die Welt“, im Sinne von Aufwachen und Bewusstsein. Was kann/soll der Einzelne für sich und die Welt tun?
Die unmittelbare Nachkriegszeit war neben den furchtbaren Erlebnissen der Soldaten im Feld und denen der Zivilbevölkerung in den Bombennächten von Hunger und Entbehrung geprägt. Brot wegzuwerfen galt noch Jahre nach dem Krieg als Todsünde; warme Kleidungsstücke nicht pfleglich zu behandeln - allein der Gedanke an solche „Untaten“ lösten bei uns Nachkriegs-Schulkindern Panik aus. Das Bewusstsein, dass jeder nicht notwendige „Verbrauch“ den kommenden Generationen unwiederbringliche Lebensgrundlagen stiehlt, ist bei den meisten Menschen noch nicht angekommen bzw. wird verdrängt. Würden die Menschen auch nur ansatzweise ihr Handeln nach dieser Tatsache ausrichten, es wäre viel gewonnen. Energieeffizienz, Innovation und bewusstes Energiesparen wären erst einmal die sichereren Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit, als mit weiteren stählernen Monstern überall unserer Maßlosigkeit grausige Denkmäler zu setzen, die niemals auch nur im Ansatz ihrem ökologischen und ökonomischen Auftrag gerecht werden können.

Die Fragen stellten Meinhard Miegel und Nikolaus Wiesner, Dezember 2015